Die Knigge-Ayatollahs von Liestal

David Dürr - Basler Zeitung 08.06.2016


Die Hardliner im Wächterrat haben sich durchgesetzt: Wer die im heiligen Koran (bzw. im heiligen Knigge) vorgeschriebenen Grussrituale missachtet, nämlich die Hand nicht gibt und trotz Ermahnung davon nicht abrückt, erhält 50 Peitschenhiebe (bzw. umgerechnet in schweizerische Währung eine Busse von 5000 Franken).

Es sah nicht von Anfang an nach diesem Ausgang aus. Reformerische Kreise hatten noch dafür ge­worben, einen etwas liberaleren Kurs zu fahren und den Knigge nicht allzu wichtig zu nehmen. Oder jedenfalls nicht für wichtiger als das, was er ist: nämlich der Knigge. Liberale Hoffnung keimte vor allem auch deshalb auf, weil eine junge Ayatollah, die eben erst neu in den Wächterrat gewählt wor­den war und deshalb noch etwas weniger dogmatisch dachte als ihre schon ziemlich verknöcherten Mitwächter, und die erst noch das Ressort der Knigge-konformen Heranziehung der Jugend über­nommen hatte – also dass eben diese Ayatollah zunächst gar nicht sah, wo denn das Problem sei, wenn einer dem anderen nicht die Hand gibt, sondern zum Beispiel nur mit dem Kopf nickt oder nur die Mütze zieht.

Sein oder Nichtsein des Abendlandes

Da bekam sie aber von ihren Kolleginnen und Kollegen des Wächterrats und all den vielen Hardlinern an den Schaltstellen des politischen Systems etwas zu hören: Es gehe da nicht einfach ums Handge­ben oder Kopfnicken oder Mützeziehen, sondern um Sein oder Nichtsein des Abendlandes. Man stelle sich nur vor, wenn da die einen die Hand geben, die anderen mit dem Kopf nicken und wieder andere die Mützen ziehen; da könnten gar welche kommen und nur mit Handwinken grüssen, der eine womöglich mit der linken Hand, der andere mit der rechten Hand und ein dritter gar mit beiden Händen, nochmals andere mit einem Hofknicks oder mit Hand­anlegen am Hutrand, und wiederum andere mit gefalteten Händen sich verbeugend.

Oder wenn einzelne gar noch verschiedene Grussarten anwenden, je nach dem, wen sie grüssen. Also zum Beispiel gute Freunde mit einer Umarmung, weniger gut Bekannten mit einem Handschlag. Einen Sie-Bekannten mit steifen Fingerspitzen, einen Du-Kollegen mit klat­schendem Give Me Five. Einen Pfadi-Kameraden mit der linken Hand, währen sich die rechte Hand zum Schwur hebt, andere mit der rechten Hand, während die linke Hand im Hosensack verschwindet. Eine gute Freundin mit einem Kuss auf beide Wangen, einen guten Freund aber ohne Kuss. Einen Kumpel mit einem burschikos angedeuteten Faustschlag auf die Brust, eine Freundin eher nicht. Und wer weiss, was sich da noch alles an Grussvarianten und gar Grussdifferenzierungen entwickeln würde, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Eine dramatische Zersetzung unserer Gesell­schaft in eine gefährliche Unübersichtlichkeit wäre die unausweichliche Folge, und damit Chaos, Bürgerkrieg und letztendlich der Untergang der Menschheit. – Wehret den Anfängen, Einheit und Integration statt Vielfalt und Kulturaustausch! Und genau deshalb nur eine einzige Grussart, nämlich die einzig wahre und richtige nach dem heiligen Knigge: Handgeben.

Selbst die oberste Ayatollah und Rechtsverkünderin des ganzen Landes meldete sich aus Bern zu Wort und forderte mit vor Empörung zitternder Stimme den strammen Einheitsgruss für alle Men­schen dieses Landes.

Der Posten im Wächterrat

Unsere neue Ayatollah für das Knigge-konforme Heranziehen der Jugend in Baselland war nun ziem­lich verunsichert. Gleichwohl lenkte sie nicht sofort auf das Einheitsgrussdogma ein, sondern liess zunächst noch ein Rechtsgutachten erstellen. Knigge-Rechtsgelehrte (bzw. Verfassungsrechtler) beugten sich über das Problem, wogen Argumente für und gegen die Grusseinheit, formulierten ziemlich komplizierte, für Nichtgelehrte unverständliche Sätze und kamen schliesslich zum Ergebnis, der Einheitsgruss müsse sein. Das war nicht anders zu erwarten, denn die Rechtsgelehrten waren nicht unabhängige Wissenschaftler, sondern Angestellte des Wächterrats.

Spätestens jetzt wusste die neue Ayatollah für das Knigge-konforme Heranziehen der Jugend im Kan­ton Baselland, dass sie auf den harten Kurs umschwenken musste, wollte sie ihren angesehenen Posten im Wächterrat nicht verlieren. Und so erliess sie vor einigen Tagen die Weisung mit den fünfzig Peitschenhieben (bzw. den 5000 Franken), falls jemand trotz Ermahnung den Handschlag verweigert. Der Wächterrat war zufrieden, die Rechtsgelehrten ebenfalls, die oberste Rechtsayatol­lah des Landes sowieso. Und auch die meisten Medien zollten diesem „konsequenten Durchgreifen“ hohes Lob: Nur so – hiess es – lasse sich unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung gegen intolerante und bornierte Geisteshaltun­gen verteidigen…

Zurück zu den Medien