Das grosse Einmaleins

David Dürr - Basler Zeitung 09.08.2013


Ich erinnere mich noch an jene Heimatkundenstunde in der Primarschule im Gundeli, als Fräulein Schuhmacher, unsere Lehrerin, die etwas komische Frage stellte, was eigentlich „der Staat“ sei. Weil niemanden das wusste, gab Fräulein Schuhmacher die Antwort gleich selbst: Der Staat, das sind wir. – Jetzt wussten wir es, weil ja alles, was Fräulein Schuhmacher sagt, stimmt. Gleich wie eins uns eins zwei gibt, oder beim grossen Einmaleins: was zehn mal zehn gibt. Das gibt nicht hundert, weil die Nachrechnung dazu führt, sondern weil es Fräulein Schuhmacher sagt.

Dies kommt mir immer wieder in den Sinn, wenn ich als Reaktion auf meine staatskritischen Kolumnen den Einwand höre, der Staat, das seien doch wir. Er möge ja seine Schwächen haben – welche Organisation hat das nicht – aber letztendlich seien es doch wir selbst, die den Staat bilden. Wenn uns der Staat Vorschriften macht, so seien das letztlich wir selbst, die uns diese machen. Ich frage meine Gesprächspartner dann jeweils, ob sie das bloss glauben oder ob sie es schon einmal nachgerechnet haben. Noch kein einziger hatte je nachgerechnet. Sie haben alle nur geglaubt, wenn nicht ihrer Primarlehrerin, dann Staatsrechtslehrbüchern oder dem politischen Mainstream.

Also rechnen wir doch einmal nach, wie weit es stimmt, dass wir es selbst sind, die uns all diese Vorschriften machen. Nehmen wir das Beispiel des Bundesrechts, also jener Gesetze, Verordnungen und sonstigen Vorschriften, die in der ganzen Schweiz gelten. Lässt sich wirklich sagen, dass all diese Bundesvorschriften von allen Landesbewohnern gemacht worden sind? Dass jeder Mensch in diesem Land, wenn er mit irgendeiner Bundesvorschrift konfrontiert wird, sich sagen kann: Diese Vorschrift habe ich selbst erlassen, dabei muss ich mich behaften lassen?

Natürlich wird dies nie zu hundert Prozent der Fall sein. Und manch einer wird – noch bevor er zu rechnen beginnt – schon wissen, dass er sich mit einer tieferen Quote als 100% zufrieden geben wird. Dass er auch bei nur 75% oder 51%, vielleicht sogar bei einer Quote unter 50% noch immer sagen wird, wir seien der Staat. Aber verschieben wir doch diese Diskussion auf später, wenn wir das Ergebnis unserer Nachrechnung vor uns haben. Und beginnen wir zu rechnen:

• In einem ersten Schritt zählen wir nach und berechnen, wie hoch bei den Volksabstimmungen die Zustimmungsquote in Prozenten der Landesbevölkerung ist.

• In einem zweiten Schritt, wie hoch der Prozentanteil der heute geltenden Bundesvorschriften ist, die dem Volk vorgelegt worden sind. Indem wir diese beiden Prozentsätze miteinander multiplizieren, erhalten wir sozusagen die Quote der direkten Demokratie.

• In einem dritten Schritt ermitteln wir die Quote der indirekten Demokratie. Das heisst wir zählen nach und berechnen den Prozentsatz, zu dem man sagen kann, die Landesbevölkerung nehme über ihre parlamentarischen Vertreter am Gesetzgebungsprozess teil.

• Schliesslich addieren wir die beiden Quoten der direkten und der indirekten Demokratie und erhalten damit die quantifizierte Aussage darüber, wie weit es stimmt, dass wir alle der Staat sind.

Jetzt reicht aber der Platz nicht mehr. Ich mache am nächsten Freitag weiter. Haben Sie Lust, inzwischen schon einmal selbst zu rechnen? 

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