175 Jahre Zwangsgenossenschaft



David Dürr – eigentümlich frei / Oktober 2023



Über den verdrängten Staatsstreich der Eidgenossenschaft

In der Schweiz feiert man gerade den 175. Geburtstag der angeblich besonders demokratischen Schweizerischen Eidgenossenschaft. Am 12. „Herbstmonat“ 1848 wurde in Bern, der nachmaligen Bundeshauptstadt, die neue Bundesverfassung angenommen. Damit wurde aus dem früheren losen Staatenbund von 22 selbständigen Kleinstaaten (Kantonen) ein einziger umfassender Bundesstaat. 15,5 Kantone stimmten dafür, 6,5 Kantone dagegen (es gab einzelne Halbkantone). Innerhalb der meisten Kantone waren Volksabstimmungen vorausgegangen, bei denen 154’00 Ja-Stimmen zu 54‘000 Nein-Stimmen abgegeben wurden.

Was so schön demokratisch klingt und in der Schweiz jetzt so stolz gefeiert wird, war ein völkerrechtswidriger Staatsstreich. Denn um aus selbständigen Kleinstaaten einen umfassenden Einheitsstaat zu bilden, braucht es Einstimmigkeit. Dass es damals trotzdem zu einem Mehrheitsentscheid kam, mit dem die Minderheitskantone in den neuen Bundesstaat gezwungen wurden, hatte einen speziellen Grund: Vorausgegangen war nämlich ein Bürgerkrieg, der sogenannte Sonderbundskrieg, den die Mehrheitskantone angezettelt und schliesslich gewonnen hatten. Das verschaffte ihnen dann als starke Sieger die Möglichkeit, ihre politischen Bedingungen den geschwächten Verlierern zu diktieren. 

Und was die Mehrheit des Stimmvolks anbelangt, so sieht es gar noch schlimmer aus als bei den Kantonen. Betrachtet man nämlich das Abstimmungsergebnis etwas genauer, so war es in Wirklichkeit nicht eine Mehrheit, sondern eine verschwindend kleine Minderheit, die Ja stimmte. Denn zu messen wären die Stimmen nicht an der Anzahl der abgegebenen Stimmen, sondern der Personen, für die die neue Verfassung hinfort Rechtskraft haben sollte; und das war die gesamte damalige Landesbevölkerung von rund 2‘400‘000 Menschen. Indem von diesen nicht mehr als 154‘000 zugestimmt haben – das sind rund 6% - ist nicht einzusehen, weshalb dies für die anderen 94% verbindlich sein soll.

Später in der Schweizer Geschichte gab es noch zweimal eine Totalrevision der Bundesverfassung, die allerdings bloss punktuelle Fortschreibungen enthielten. Doch immerhin wären dies Gelegenheiten gewesen, die angeblich so demokratische Grundordnung der Schweiz etwas breiter abzustützen. Leider geschah das nicht. Einer Totalrevision der Bundesverfassung im Jahr 1874 stimmten nicht mehr als 12,4% der damaligen Landesbevölkerung zu, bei einer Totalrevision des Jahres 1999 waren es auch nicht mehr als 13%. Weshalb bloss soll diese neuste Verfassung für die anderen 87% der Landesbevölkerung gelten?

Oder lässt sich das Narrativ von der besonders demokratischen Schweiz vielleicht doch noch, mit einer anderen Überlegung, retten? Nämlich indem man nicht nur die Verfassungsgebung, sondern die gesamte sonstige Bundesgesetzgebung betrachtet, bei der das Volk ja immer wieder im Rahmen von Sachabstimmungen involviert ist. Doch leider sieht es auch da nicht besser aus. Von der gesamten Bundesgesetzgebung mit derzeit über 5‘000 Erlassen wurden weniger als 1 % überhaupt dem Volk mit einem sogenannten Referendum unterbreitet. Etwa 25% der Erlasse hat das Parlament beschlossen und tut so, wie wenn es dies in Vertretung des Volkes getan hätte, was eigentlich eine unverschämte Anmassung ist; denn mit Vertretung im Sinn souveräner Bürger, die freiwillig ihre Vertreter zu Abstimmung entsenden, hat das nichts zu tun, dafür umso mehr mit unfreiwilliger Bevormundung. Die übrigen Bundeserlasse, also rund 74%, werden von der Regierung beschlossen; zu ihnen hat das Parlament so gut wie nichts zu sagen, und das Volk noch weniger.

Von wegen 175 Jahre demokratische Schweiz! Was gibt es denn da zu feiern?


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