Kernaufgaben des Staates?
Vermutlich ein verhängnisvoller Übersetzungsfehler
David Dürr – eigentümlich frei / Mai 2025
In Argentinien keimt Hoffnung auf. Anarchokapitalisten, Anarcholibertäre und überhaupt Anarchisten wittern Morgenluft. André Lichtschlag kann es fast nicht glauben: «Kann mich mal jemand zwicken, bitte?» Auch ich, bei eigentümlich frei seit immerhin acht Jahren für bürgerlichen Anarchismus zuständig, schaue begeistert über den Atlantik nach dem Silberland, das dank Javier Mileis Kettensäge dazu ansetzt, seinem Namen schon bald wieder alle Ehre zu machen.
Und so habe ich mit grösstem Zuspruch im letzten Heft von eigentümlich frei die mitreissende Rede Mileis anlässlich der Röpke-Preis-Verleihung des liberalen Instituts gelesen und nicht weniger zugeneigt seine schonungslose Abrechnung mit dem kollektivistischen Woke-Mainstream am World Economic Forum 2025. Wie dämlich müssen wohl manche Zuhörer dort in Davos dreingeschaut haben.
Doch dann beim Lesen dieser Rede das:
«Die Funktionen des Staates müssen wieder auf die Verteidigung der Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum beschränkt werden. Jede andere Funktion, die sich der Staat anmasst, wird seine Kernaufgaben beeinträchtigen und unvermeidlich zum allgegenwärtigen Leviathan führen, unter dem wir heute alle leiden.»
Da muss ich etwas gelesen haben, das da nicht stand. Schon einige Male in letzter Zeit kam es mir bei schlechtem Licht vor, ich sollte neue Brillengläser haben. Deshalb zwei Sätze zurück und nochmals bei besserem Licht; doch es las sich noch immer so. Von Milei konnte das aber nicht stammen. So etwas wie «Kernaufgaben» des Staates gibt es bei ihm nicht und bei so wichtigen Freiheitsrechten wie denjenigen auf Leben und Eigentum erst recht nicht. Wer setzt schon den Fuchs als Beschützer des Hühnerhofs ein? Wie kamen diese Sätze bloss in diesen Text des Anarchokapitalisten Milei?
Bis es mir wie Schuppen von den Augen fiel: Ein Übersetzungsfehler! Das Original war ja spanisch und wurde in Davos von Milei rasend schnell vorgelesen. Da können, ja müssen sich Übersetzungsfehler eingeschlichen haben. Und sind auch nur wenige Wörter davon betroffen, kann dies je nach dem den Sinn einer Aussage komplett entstellen. Genau dies muss hier passiert sein. Denn die nähere Analyse zeigt, dass nur ganz wenige Wörter (hier nachstehend grau unterlegt) zu korrigieren sind, und schon haben wir das, was Milei ohne jeden Zweifel in Davos gesagt hat:
«Die Funktionen des Staates müssen auch bei der Verteidigung der Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum beseitigt werden. Wie jede andere Funktion, die sich der Staat anmasst, wird er auch seine «Kernaufgaben» beeinträchtigen und unvermeidlich zum allgegenwärtigen Leviathan führen, unter dem wir heute alle leiden.»
Das erklärt auch, weshalb damals in Davos nicht nur hartgesottene Etatisten, sondern auch klassisch liberale Minimalstaatler etwas betreten dreingeschaut haben. Denn bei diesen beiden Sätzen von Milei muss ihnen bewusst geworden sein, dass ein Minimalstaat niemals minimal bleibt und auch bei ihm nichts anderes taugt als die bewährte Milei’sche Kettensäge.
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